Karen Duves vierten Roman "Taxi"

Karen Duve hat ihren vierten Roman "Taxi" über eine Hamburger Taxifahrerin geschrieben - und sich damit auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit begeben.

Eine ziellose Jugend, eine spießige Familie, eine frustrierende Ausbildung - da kommt die Annonce "Taxifahrerin gesucht" schon fast wie die Rettung schlechthin daher. Auch wenn Alex Herwig leider ein Gedächtnis wie ein Sieb hat. Trotzdem büffelt sie Straßennamen und Wegstrecken - und hat das Glück auf einen extrem gnädigen Prüfer zu treffen. Bald sitzt sie zum ersten Mal im Wagen und schwitzt Blut und Wasser, weil sie die Straße nicht kennt, nach der ihr erster Fahrgast fragt. Und Alex wird - halb wider Willen - von einer Kollegen-Clique aufgesogen, die aus abgebrochenen Studenten, gescheiterten Künstlern, misanthropischen Gar-nicht-Akademikern und frauenfeindlichen Verklemmten besteht - bis sie Marco trifft, einen extrem kleingewachsenen, aber umso bestimmter agierenden jungen Mann ... Karen Duve erzählt von einer jungen Frau, der das Leben nichts schenkt, die einen Beruf hat, in dem sie andauernd Leute trifft, denen das Leben erst recht nichts schenkt.

Karen Duve, wurde am 16.11.1961 in Hamburg geboren und wuchs in Lemsahl-Mellingstedt auf. 1981 absolvierte sie in Hamburg das Abitur und begann eine Ausbildung zur Steuerinspektorin, die sie 1983 abbrach. Sie arbeitete dann als Taxifahrerin und erledigte Korrekturarbeiten für eine Zeitschrift. Sie begann Kurzgeschichten zu schreiben und erhielt erste Preise für ihr Schaffen. 1995 veröffentlichte sie erstmals die Erzählung "Im tiefen Schnee ein stilles Heim", auf die weitere Publikationen folgten mit denen sich Karen Duve in der Literaturszene etabliert hat.
Karen Duve lebt mit ihrer englischen Bulldogge, zwei Hühnern und einem Maultier auf dem Lande. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, ihre Romane waren Bestseller und sind in 14 Sprachen übersetzt. Die Presse feiert die Erzählerin als "Ausnahmetalent unter den Autoren ihrer Generation" (Stuttgarter Zeitung) und als "ungewöhnliche Sprachakrobatin, die Metaphern zielsicher setzt und komische Effekte am Fließband produziert" (Neue Züricher Zeitung), bei der "Witz und Schärfe ganz nah beieinander liegen" (WDR 2).

Die Zentralbibliothek, Bertha-von-Suttner-Platz 1, präsentiert in der Reihe Literarischer Sommer ~ Zomerlezen ~ Wie in einem Traum ~ Als in een droom: Karen Duve liest "Taxi", am Mittwoch, den 3. September 2008 um 20 Uhr

"So ging das nicht weiter. Ich hatte die Ausbildung bei der Versicherung abgebrochen, die einzige Ausbildung, die ich je angefangen hatte. Danach versuchte ich, ohne Geld von Hamburg nach München zu laufen, in der Hoffnung, dass sich unterwegs irgendetwas ergeben würde. Ich hätte ja zum Beispiel mitten im Wald auf ein Auto stoßen können, ein Auto mit einem halbverwesten Toten hinter dem Lenkrad. Und neben ihm, auf dem Beifahrersitz, hätte zwischen lauter Maden ein Koffer mit zehntausend Hundert- Mark-Scheinen in unsortierter Nummerierung gelegen. Hätte doch sein können. In Göttingen wickelte ich das, was von meinen Füßen übrig war, in ein doppeltes Paar Socken und trampte wieder nach Hamburg zurück.

"Ich hoffe, du weißt, was du zu tun hast, wenn du in der Gosse gelandet bist«, sagte mein Bruder, »nicht, dass einer von der Familie nachher noch für dich aufkommen muss."

Mein Bruder tat immer so, als wäre unsere Familie eine verschworene Gemeinschaft, in der nur ich querschießen würde, aber in Wirklichkeit wohnte er mit mir zusammen in einer Gartenlaube, die unser Vater auf der Rasenfläche hinter seinem Haus hochgezogen hatte, um uns beide nicht mehr sehen zu müssen. Die Laube hatte zwei Zimmer, für jeden eins. Ein Badezimmer gab es nicht, dafür mussten wir zum Haus rüber laufen. Bei Schnee und Regen und in finsterster Nacht. Gewöhnlich saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett, lehnte den Rücken gegen das Kopfkissen und die schlecht isolierte Holzwand und las ein Buch über Schimpansen. Oder ich sah aus dem Fenster in die Zweige eines giftigen Goldregens. Ich musste mir langsam etwas einfallen lassen. Meine ehemaligen Mitschüler studierten schon seit anderthalb Jahren, und wenn ich nichts tat, würden sich meine Eltern wieder irgendeinen langsamen Tod in einem Büro für mich ausdenken.
Ich fing an, die Stellenanzeigen in der Bild-Zeitung zu lesen. Gesucht wurden Mitreisende für Drückerkolonnen, Barfrauen auf Provision und Taxifahrer. Drückerkolonne ging nicht, weil ich ja überhaupt kein Durchsetzungsvermögen hatte. Ich hoffte immer noch, dass sich irgendetwas von selbst ergeben würde, etwas Großes und Besonderes, ohne dass ich deswegen selber handeln musste oder gezwungen war, Entscheidungen zu fällen, die ich dann den Rest meines Lebens zu bereuen hatte. Aber bis es so weit war, konnte ich ja Taxi fahren. Ich meldete mich auf eine Anzeige, in der nicht nur Taxifahrer, sondern ausdrücklich auch Taxifahrerinnen gesucht wurden. 1984 war es in Stellenanzeigen noch nicht üblich, jedem Beruf auch noch eine weibliche Endung anzufügen. Man tat es nur, wenn man andeuten wollte, dass man praktisch jeden nahm." (S.7)

Karen Duve: Taxi
320 Seiten, € 19,95
Eichborn Berlin
Mai 2008

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